Ob Studium ohne Abitur oder duale Studienangebote – immer mehr Menschen in Deutschland wollen das Beste aus beiden Bildungssystemen. Doch zwischen beruflicher und akademischer Bildung fehlen Übergänge und Anschlussmöglichkeiten. Das CHE Centrum für Hochschulentwicklung plädiert deshalb in einer aktuellen Broschüre für ein nutzerorientiertes Neu-Denken nachschulischer Bildung.
Der Trend zum Studium ist in Deutschland unverkennbar. Waren es im Jahr 2005 noch knapp zwei Millionen Studierenden, sind es mittlerweile rund drei Millionen. Dabei ist die Hinwendung zu akademischen Angeboten keine Abkehr von der Praxis. Innerhalb des Hochschulsystems boomen besonders Angebote, die Wissenschaftlichkeit und Praxisbezug kombinieren. Hierzu gehört etwa die stärkere Nachfrage nach Fachhochschulen bzw. Hochschulen für angewandte Wissenschaften oder duale Studienangebote, die Elemente akademischer und betrieblicher Ausbildung verbinden.
Rund ein Viertel der Studierenden hatte 2016 bereits eine berufliche Ausbildung abgeschlossen. 2020 hatten sich rund 66.000 Studierende für den dritten Bildungsweg entschieden und studierten ohne Abitur. Nach Schätzungen des CHE im Frühjahr 2022 könnten theoretisch bis zu 80 Prozent der Bevölkerung in Deutschland aufgrund ihrer beruflichen Qualifikation ein Studium aufnehmen.
„Bildungsinteressierte wollen heute ganz selbstverständlich das Beste aus beiden Welten. Doch das seit Jahrzehnten etablierte Lagerdenken in Deutschland macht ihnen einen Wechsel zwischen akademischer und beruflicher Bildung schwerer als nötig“, bilanziert CHE Geschäftsführer Frank Ziegele. „Es geht leider eher darum, der anderen Seite Bildungswillige abzujagen, statt durch Zusammenarbeit flexible Bildungskarrieren zu schaffen“.
Als besonders problematisch erweisen sich dabei Ein- und Umstiegsmöglichkeiten sowie fehlende Routinen bei der Anerkennung beruflicher und akademischer Teil-Leistungen. Sowohl bei der Integration beruflich Gebildeter ins Hochschulsystem als auch bei der Anerkennung von Studienleistungen in beruflichen Bildungsgängen werden Wechselwillige meist als Einzelfall gehandhabt. Damit sind oftmals Unsicherheiten und Unwägbarkeiten für Bildungsinteressierte verbunden.
Dass es auch anders geht, zeigen Beispiele aus der CHE Broschüre „Gut verbunden? Hochschulen als Knotenpunkte nachschulischer Bildung“.
- So berät und begleitet das NRW-Talentscouting Schüler*innen – gerade aus nicht-akademisch geprägten Familien – ergebnisoffen bei der Entscheidung für eine Ausbildung oder ein Studium.
- Das SWITCH-Programm in Aachen bringt Studienzweifler*innen noch vor der Exmatrikulation mit mehr als 300 potenziellen Ausbildungsbetrieben aus der Region zu einer später verkürzten Ausbildung zusammen.
- Beim O ja! Orientierungsjahr Berlin schnuppern junge Menschen ein Jahr lang in MINT-Studiengänge der HTW Berlin und Ausbildungsberufe hinein und müssen sich erst danach für einen passenden Bildungsweg entscheiden. Das Ganze inklusive BAföG-Förderung und mit späterer Anrechnung auf das jeweilige Studium bzw. die jeweilige Ausbildung.
Diese Beispiele zeigen, so Frank Ziegele, dass ein nutzerorientiertes Neu-Denken von nachschulischer Bildung möglich sei und im Kleinen bereits funktioniere. „Deutschland braucht innovative Anschlüsse zwischen der akademischen und beruflichen Bildung. Nur mit Knotenpunkten in einem Gesamtsystem nachschulischer Bildung können alle Bildungsinteressierten auch wirklich das Beste aus beiden Welten für ihre individuelle Bildungsbiografie mitnehmen “, so der CHE Geschäftsführer.
Dafür müsste allerdings das noch zu oft vorherrschende Lagerdenken von allen Akteuren der akademischen und beruflichen Bildung überwunden werden, so die Autor*innen der CHE Broschüre. Ein gemeinsam gestaltetes System nachschulischer Bildung müsse nicht automatisch zulasten der beruflichen Bildung gehen, sondern könne ihr vielmehr helfen, ihr eigenständiges Profil zu schärfen und in Wechselwirkung gewinnbringend zur Geltung kommen zu lassen.
CHE Geschäftsführer Frank Ziegele zeigt sich optimistisch, dass ein solcher Umbruch im deutschen Bildungssystem realisiert werden kann. „Gerade das beherzte und innovative Krisenmanagement von Hochschulen und Wissenschaftsministerien zu Beginn der Corona-Pandemie hat gezeigt, was unter Veränderungsdruck alles möglich ist“, so Ziegele.
Über die Publikation:
Das CHE beschäftigt sich schon länger intensiv mit den Schnittstellen zwischen beruflicher und akademischer Bildung. Hierzu zählen u.a. regelmäßige Erhebungen zum Studium ohne Abitur, zu Teilzeit-, Weiterbildungs- oder dualen Studiengängen. Die vorliegende Publikation bündelt aktuelle Entwicklungen, zeigt Hintergründe, Probleme und Chancen eines gemeinsam gestalteten nachschulischen Bildungssystems auf und zeigt Good-Practice-Beispiele. Autor*innen der Broschüre „Gut verbunden? Hochschulen als Knotenpunkte nachschulischer Bildung“ sind Ulrich Müller, Jan Thiemann, Frank Ziegele, Melisande Riefler, Silvia Kremer, Olaf Kordwittenborg und Sonja Berghoff.Mehr zum Thema unter www.che.de/nachschulische-bildung/
Gut verbunden? Hochschulen als Knotenpunkte nachschulischer Bildung 25. April 2022 3.59 MB 20107 downloads
Müller, Ulrich; Thiemann, Jan; Ziegele, Frank; Riefler, Melisande; Kremer, Silvia;...Interview von Frank Ziegele zum Thema im Deutschlandfunk (25.04.2022)
"Eine App für nachschulische Bildungswege und Übergange" (Interview Frank Ziegele im DLF 25.04.2022) 28. April 2022 0.00 KB 11743 downloads
CHE Geschäftsführer Frank Ziegele erläutert im Gespräch mit dem Deutschlandfunk...Gastbeitrag von Frank Ziegele in Die ZEIT (28.04.2022)